Medien

Langsam ist das neue Schnell

(20.03.2019)

Prof. Dr. Victoria Sweet aus San Francisco stellte ihr Buch „Slow Medicine“ vor

 

Es klang wie ein Traum, als Dr. Victoria Sweet aus San Francisco am Montag im Klinikum St. Elisabeth von geheilten Patienten und glücklichen Ärzten und Pflegekräften erzählte. Dazu müssten die Möglichkeiten der Schulmedizin mit traditionellen Ansätzen kombiniert werden. „Heilung braucht mehr als Technik. Sie braucht Zeit“, sagte die Internistin und Medizinhistorikerin bei der Vorstellung ihres Anfang des Jahres auf Deutsch erschienenen Buchs „Slow Medicine - Medizin mit Seele“.

Viele Denkanstöße bekamen die rund 50 Besucher von Dr. Victoria Sweet. Die Ärztin und Forscherin über Hildegard von Bingen zeigte auf, dass Medizin sich öffnen müsse für Spirituelles und für Einsichten, beispielsweise aus der chinesischen oder ayurvedischen Medizin, ohne notwendiger Weise diese Weltanschauungen zu übernehmen. Gleichzeitig gestand sie ein, dass ihre Einblicke in das deutsche Gesundheitswesen bei ihrer jetzigen Reise– Kostendruck auf Krankenhäuser und Zeitdruck auf Personal - sie nachdenklich gemacht hätten. 

Der Begriff „Slow Medicine“ sei in Analogie zur Bewegung des „Slow Food“ entstanden. „Slow Food“ bedeute nicht langsameres Kochen, sondern im Gegensatz zu Fast Food eine überlegte Auswahl der Zutaten und eine liebevolle Zubereitung. Ähnlich sei es auch bei guter Medizin: Den Patienten als Mensch in all seinen Dimensionen wahrnehmen.

Die Schulmedizin kann auf beeindruckende Erfolge verweisen und ist bei akut eintretenden Erkrankungen ein Segen. Das Verständnis des Körpers in der Schulmedizin ähnelt dabei einer Ansammlung von Maschinen: Das Hirn als Computer, das Herz als Pumpe, die Lunge als Blasebalg und die Niere als Filter. In diesem Verständnis entspricht Krankheit dem Defekt einer der Maschinen und wird durch eine entsprechende Intervention behoben. 
Im Gegensatz hierzu ähnelt das Bild des Körpers  der Hl. Hildegard von Bingen eher dem einer Pflanze, sagte Dr. Victoria Sweet. Dabei geht es weniger darum direkt an der Pflanze etwas zu tun, sondern Licht, Bewässerung, Temperatur und Erde zu betrachten und so zu beeinflussen, dass die Pflanze heilt bleibt oder sich selbst heilen kann. Ähnlich sei der Ansatz von „Slow Medicine“: Den Patienten in seinem Umfeld im weitesten Sinn zu erfassen und dieses Umfeld so zu berücksichtigen und zu verändern, dass die Selbstheilungskräfte gestärkt werden.
Schulmedizin und „Slow Medicine“ seien kein Gegensatz, sondern eine sinnvolle Ergänzung und mal brauche man als Patient eher einen „Mechaniker“ oder mal eher einen „Gärtner“ (und oft sogar beides). 
Inwieweit die Ansätze der „Slow Medicine“ von Ärzten und Pflegern im Krankenhaus-Alltag trotzdem umgesetzt werden könnten, fragte Klinikums-Geschäftsführer Dr. Christoph Scheu. „Keine einfache Frage“, antwortete Dr. Victoria Sweet. Am wichtigsten sei aber die menschliche Begegnung zwischen Patient und Arzt zu ermöglichen. Dies sei auch bei knapper Zeit möglich, erfordere aber die Bereitschaft des Arztes sich auf den Patienten einzulassen. Anhand einer Studie erläuterte sie, wie dieselben fünf Minuten Zeit für Arzt-Patientengespräch ganz unterschiedlich von den Patienten wahrgenommen werden: vom Türrahmen ausgeführt, fühlt sich das Gespräch als 1-2 Minuten an, am Bett des Patienten stehend wurden die 5 Minuten auch als 5 Minuten wahrgenommen. Setzte sich aber der Arzt zum Patienten so wurden aus den 5 Minuten gefühlte 15 Minuten und die Patienten erwähnten rückblickend auf das Arztgespräch „Wir hatten eine tolle Zeit.“

Dr. Victoria Sweet kann von beeindruckenden Heilungserfolgen erzählen, wenn Medizin so praktiziert wird. „Ich nehme mir Zeit für den Patienten. Ich höre ihm zu und untersuche ihn eingehend. Die Ökonomen würden sagen, das ist ineffizientes Arbeiten. Doch tatsächlich führt diese Art der Medizin zu einem wahrhaft effektiven, effizienten und auch menschlichen Weg der Heilung“. 

Es bleibt nur zu hoffen, dass hiesige Gesundheitspolitiker auf das Buch von Prof. Dr. Sweet aufmerksam werden und zu dieser Einsicht gelangen.

Die Lesung und Buchvorstellung im Klinikum St. Elisabeth war eine Gemeinschaftsveranstaltung von Klinikum und Katholischer Erwachsenenbildung. -urs-