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Abrissbirne in der Krankenhauslandschaft
Ganze 15 Jahre lange hat Dr. Christoph Scheu im Verbund der Krankenhäuser der Barmherzigen Brüder die Geschicke des Straubinger Klinikums als Geschäftsführer gelenkt und geprägt. Eine Ära. Mit vielen Bauprojekten und manch überbordender Welle in der Gesundheitspolitik von Bund und Land. Mit der Corona-Pandemie. Pflegekräftemangel. Ärztemangel. Scheu kennt die Krankenhauslandschaft aus jahrzehntelanger Tätigkeit und aus zweierlei Perspektiven: Der des Mediziners, des Kardiologen, der er ursprünglich war, und des späteren Verwaltungsmannes. Ende September tritt er in Ruhestand, wobei er zu den Menschen gehört, die geradezu beneidenswert alterslos wirken. Auf bald 66 würde ihn garantiert niemand schätzen. Wir sprachen mit ihm über Gesundheitspolitik und wie sie sich täglich im Alltag bemerkbar macht. Scheu fand deutliche, sehr deutliche Worte.
Wie ist Ihre Erinnerung an die Anfänge im Krankenhausbetrieb? Was haben Sie als gut, was schon damals als reformbedürftig in Erinnerung?
Dr. Christoph Scheu: Ich habe – als französischer Muttersprachler – in Straßburg Medizin studiert. Zwei Jahre war ich danach als Assistenzarzt in Frankreich, 1982 kam ich nach Duisburg in ein Haus der Maximalversorgung. Das ist über 40 Jahre her. Die Unterschiede sind gravierend. Sowohl als Arzt als auch als Pflegekraft hatte man mehr Zeit, viel mehr Zeit. Drei Wochen durchschnittliche Verweildauer eines Patienten im Krankenhaus in der Inneren Medizin waren ganz normal, jetzt sind es fünf Tage. Die Arbeit war längst nicht so verdichtet wie heute, aber die Arbeitszeiten für Ärzte brutal, von 7 bis 19 Uhr oder 20 Uhr und als Assistenzarzt an Wochenenden durchgehende Bereitschaftsdienste für 120 Patienten von Freitagmorgen bis Montagabend. Man hat mehr im Krankenhaus gelebt als zuhause – daher: Es war eine andere Zeit, aber keinesfalls pauschal die gute alte Zeit. Die Hierarchien waren extrem steil, das hat erfreulicherweise deutlich abgenommen. In Krankenhaus-Verwaltungen wurde damals oft auch mit einer gewissen Starrheit und Innovationsfeindlichkeit verwaltet.
Fallpauschalen eine Revolution, aber...
Über Krankenhausreformen wird fast immer diskutiert: Was halten Sie von dem, was in den vergangenen Jahrzehnten umgesetzt wurde, für gewinnbringend, was waren Flops – entweder gleich oder im Nachhinein?
Christoph Scheu: 2004 wurden die Fallpauschalen eingeführt. Das war eine Zeitenwende, eine Revolution. Vorher war das Klinikgeschehen für alle Beteiligten eine Blackbox. Durch die notwendige Kodierung für die Abrechnung der Fallpauschalen kam Transparenz und eröffnete Steuerungsmöglichkeiten nach innen und außen. Die Krankenhausverwaltungen wurden zum Management gezwungen. Allerdings wurde, anders als in anderen Ländern er Welt, bei der Einführung der Fallpauschalen gravierende Konstruktionsfehler gemacht: Alle Krankenhäuser sollten unabhängig von Qualität, Ausstattung oder Größe denselben Preis erhalten und die Krankenhäuser sollten zu 100 Prozent über die Fallpauschalen finanziert werden. Der Versorgungsauftrag für die Menschen vor Ort wurde in dieser Vergütung völlig außer Acht gelassen. Die Entwicklung in den vergangenen fast 20 Jahren ist daher in eine zunehmende Schieflage geraten und klinische Qualität, die eigentlich messbar wäre, spielte – allen blumigen Worten zum Trotz – überhaupt keine Rolle. Bis vor ca. zehn Jahren haben aber die Fallpauschalen Krankenhäusern eine gewisse Gestaltungsfreiheit gegeben, die genutzt werden konnte, um einrichtungsintern die Qualität der Versorgung weiterzuentwickeln. Unter dem Einfluss der Krankenkassen hat sich aber in den letzten zehn Jahren die Gesundheitspolitik immer mehr dazu verleiten lassen, die Krankenhäuser mit einem kontinuierlich steigenden Bombardement bürokratischer Vorgaben zu überziehen.
Eine fatale Entwicklung, die unter den Gesundheitsministern Jens Spahn und Karl Lauterbach nun erschreckende Ausmaße erreicht hat und in zunehmendem Maße der Patientenversorgung Ressourcen entzieht. Die Verbitterung der Mitarbeiter im Gesundheitswesen – Pflege, Ärzte im Krankenhaus, Niedergelassene, ist sehr hoch und viele sehen eine Welle der Zerstörung auf das Gesundheitswesen kommen. Schade, denn dabei wäre so viel machbar! Beispiel Kniegelenkprothesen-Operationen: Nur wenn eine Klinik im Jahr mindestens 50 OPs durchführt, darf sie das anbieten. Ob aber die 50 Knie-OPs von ein und demselben Arzt operiert werden oder von zehn verschiedenen, spielt keine Rolle. Begründet wird diese Mindestmengenvorgabe mit Qualität. Wie man Qualität dabei messen kann, machen uns (wieder!) andere Länder vor: Nachschauen (per Telefonbefragung oder besser noch per App) ob ein Jahr nach der OP der Patient noch Schmerzen hat, wie weit er/sie gehen kann, etc… An so einem Beispiel sieht man, dass Qualität nicht wirklich interessiert. Das Problem wird dadurch verschärft, dass die Themen oft sehr komplex sind und die Politik dem sogenannten „Gemeinsamen Bundesausschuss – G-BA“ die Ausformulierung der Gesundheitspolitik überlässt. Dort wird statt Qualität jedes Jahr die Überbürokratisierung gemeinsam vorangetrieben von Kassenärztlicher Vereinigung, Krankenkassen und Krankenhausgesellschaft – die sogenannte „Selbstverwaltung“, die immer mehr in Gefahr steht, zum Selbstzweck zu werden und sich leider oft nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann. Politiker kommen und gehen, die Selbstverwaltung aber bleibt und verschlingt mit jeder neuen Verwaltungsvorgabe mehr Geld der Beitragszahler, die im Gegenzug aber ein immer weniger funktionsfähiges Gesundheitssystem erhalten.
Arbeitsverdichtung für Ärzte und Pflegekräfte
Fachkräftemangel ist ebenfalls vieldiskutiert: Was hat man versäumt, was richtig gemacht? Und wo sehen Sie die Entwicklung hingehen? Man könnte ja Worst Case- Szenarien aufbauen, dass man künftig mit einer Begleitperson ins Krankenhaus kommen muss, um versorgt zu werden… aber es gibt immer mehr Singles!
Christoph Scheu: Die Arbeit in der Pflege ist heute viel anspruchsvoller und vielseitiger geworden. Heute ist die Pflege im Krankenhaus ein zentraler Mitgestalter zum Wohl des Patienten. Erfreulich ist, dass sich die beruflichen Perspektiven für jeden Mitarbeiter in der Pflege stark weiterentwickelt haben. Das zentrale Problem heute ist die exzessive Arbeitsverdichtung für Ärzte und Pflegekräfte. Die Arbeitszeiten sind kürzer geworden, die Arbeit aber nicht weniger. Es fehlt an Zeit für Patienten und zur Reflexion. Ja, Patienten werden nicht nur zwischen 9 und 17 Uhr und Montag bis Freitag krank und so ist die Schichtarbeit und das Arbeiten an Wochenenden eine Belastung für den Einzelnen. Wenn die Politik ein Signal setzen wollte, so wäre es gut, Wochenendzuschläge für die, die uns im Notfall am Wochenende auch behandeln und pflegen, steuerfrei zu machen. Das große Glück ist, dass die meisten Menschen in der Pflege diesen Beruf aus idealistischen Motiven ergriffen haben. So bin ich sicher, dass auch in Zukunft ein Krankenhaus, das ihnen mit Wertschätzung begegnet, ihnen zuhört und mit ihnen da Krankenhaus weiterentwickelt und gestaltet, diese engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden kann.
Früher hat man immer gesagt (oder eigentlich auch heute noch), dass man bei Erkrankung aus dem Ausland möglichst schnell nach Deutschland zurückwill in den Schoß des deutschen Gesundheitssystems. So schlecht kann es also nicht sein. Wie beurteilen Sie das?
Christoph Scheu: Umfragen unter Beschäftigten in Gesundheitssystemen aller entwickelten Länder zeigen eine wachsende Unzufriedenheit und teilweise krisenhafte Zuspitzung. Im Vergleich mit anderen Gesundheitssystemen steht Deutschland für Patienten noch relativ gut im Mittelfeld da. Aber der relativ großzügige Zugang zu Gesundheitsleistungen für Patienten wird in Deutschland auf dem Rücken der Beschäftigten im Gesundheitswesen erkauft. Im internationalen Vergleich erhalten Krankenhäuser deutlich weniger Geld pro Untersuchung oder Eingriff und es besteht viel weniger Personal pro Klinik-Bett zur Verfügung als in den meisten entwickelten Ländern. In Deutschland findet eine heimliche Rationierung beim Personal statt und die Politik hält die Illusion aufrecht, jeder könne nahezu alles bekommen, was er wolle. Eine sinnvolle Indikationssteuerung, zum Beispiel durch zwingende Zweitmeinung bei elektiven Eingriffen findet nicht statt.
Krankenhäuser sind notorisch unterfinanziert
Jetzt kommt ja wieder eine Reform: Das Ende der Fallpauschalen. Wird es dann kalkulierbarer für die Krankenhäuser? Sie haben ja bereits kritisiert, dass die Aufsplitterung in Vorhaltekosten und leistungsabhängige Bezahlung sinnvoll sei, nicht aber das Einfrieren der Budgets ohne Rücksicht auf Inflation und Lohnerhöhungen.
Christoph Scheu: Fast alle Krankenhäuser in Deutschland schreiben heute Defizite und sind notorisch unterfinanziert. Eine Reform ist daher wünschenswert, wenn sie nicht noch mehr Bürokratie mit sich bringt. Was aber geplant ist, ist genau das: Um denselben zu geringen Geldbetrag wie heute zu erhalten, müssen die Krankenhäuser nur dreifach Nachweise erbringen: Für das Pflegepersonal, für die Vorhaltungskosten und für die Fallpauschalen. Dabei stehen Krankenhäuser vor Kostensteigerungen, die noch höher sind als die amtliche Inflationsrate, denn neben Lohnsteigerungen und Energiekosten sind Medikamente und Medizinprodukte sehr viel teurer geworden und die wenigsten davon werden noch in Europa produziert. Die Pharmafirmen folgen dabei den Marktgesetzen und verkaufen dorthin, wo sie dafür den höchsten Preis erzielen können, das ist derzeit zum Beispiel der US-Markt. Ich hatte große Hoffnungen in Karl Lauterbach gesetzt und in seinen Sachverstand als Mediziner, diese sind aber bitter enttäuscht worden. Während er derzeit fleißig an seinem Luftschloss Krankenhausreform bastelt, gehen Krankenhäuser reihenweise unter.
Frei gemeinnützige Träger stehen im Regen
Wenn Sie ein Ranking aufstellen müssten über die größten Herausforderungen der Krankenhäuser in Deutschland, was stünde an den ersten drei Stellen?
Christoph Scheu: Die größte Herausforderung ist die dramatische Unterfinanzierung. Während kommunale und Landkreiskliniken sowie Landeskrankenhäuser mit teils zweistelligen Millionenbeträgen aus Steuergeldern gestützt werden, bleiben die Häuser frei gemeinnütziger Träger im Regen stehen. All das läuft bewusst oder unbewusst auf eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens hinaus und die im Grundgesetz zugesagte Trägervielfalt wird ad absurdum geführt. Zweitgrößte Herausforderung ist die zunehmende Lähmung der Krankenhäuser durch die überbordende Bürokratie.
Stattdessen wünsche ich mir, dass die Politik endlich umsetzt, was an wirklicher Qualitätsmessung möglich ist und sogenannten PROMS (Patient Measurement Systems) - Messung von Patientenergebnissen einführt und anerkannte Maßnahmen zur Patientensicherheit verpflichtend macht. In den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts starben ca. 30 000 Menschen jährlich durch Verkehrsunfälle. Heute sind es - dank Gurtpflicht, Airbags, Crashtests etc. – ca. 3 000 pro Jahr. Schätzungen zufolge sterben in Deutschland im gesamten Gesundheitswesen jährlich ca. 50 000 Menschen durch vermeidbare Fehler. Niemand – Politik, Krankenkassen, Ärztevertretungen – greift das Thema auf. Zum Teil aus Unkenntnis, aber auch aus Scham oder vielleicht aus dem wichtigen Grund, weil Sicherheitsmaßnahmen (siehe Straßenverkehr) Geld kosten würden. Eine echte „Omerta“ von Gesundheitspolitik und Gesundheitswesen.In Straubing gerade noch rechtzeitig gebaut
Was ist die Krux gemeinnütziger Krankenhausträger? Wie stellen Sie sich die Krankenhauslandschaft in zehn Jahren vor?
Christoph Scheu: Da durch die Gesundheitspolitik nahezu alle Krankenhäuser Defizite schreiben, führen die zum Teil zweistelligen Millionenbeträge aus Steuern an staatliche Krankenhäuser zu einer brutalen Wettbewerbsverzerrung, die durch noch so gutes Management und Engagement der Mitarbeiter nicht mehr aufzufangen ist. Es fließen heuer wieder zweistellige Millionenbeträge aus Steuern an staatliche Krankenhäuser, während viele gemeinnützige Krankenhäuser in Deutschland schließen werden. In Straubing haben wir Glück und haben gerade noch rechtzeitig vor der großen Krise gebaut, so dass Ende 2024 uns 60 Betten mehr zur Verfügung stehen werden und wir den Standort durch mehr medizinische Leistungen und in der Folge mehr Einnahmen sichern können.
Wollten Sie heute noch Mediziner sein?
Christoph Scheu: Es ist auch heute noch für mich der schönste Beruf und ich würde ihn sofort wieder aufnehmen. Früher war ich als Kardiologe tätig und träume manchmal noch von Herzkathetern. Eine spannende Tätigkeit, man sieht sofort das Ergebnis seiner Mühen und es ist nie langweilig. Vor der Krankheit sind alle Menschen gleich und so hat man im Laufe der Jahre viel Gelegenheit, mit sehr unterschiedlichen Menschen in Kontakt zu kommen, die man im privaten Leben nicht kennen würde.
„Ich möchte schon mit Herzblut gefordert sein“
Was haben Sie sich denn für den bevorstehenden Ruhestand vorgenommen?
Christoph Scheu: Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Nur urlauben, nur Gartenarbeit, das ist es nicht auf Dauer. Ich möchte mit Herzblut gefordert sein. Das brauche ich und so etwas wird sich finden. Meine Frau jedenfalls ist mir 30 Jahre lang zu meinen beruflichen Einsatzorten durch die ganze Republik gefolgt. Jetzt, hat sie gesagt, folgst Du mir: Wir bleiben in Straubing!
Quelle: Monika Schneider-Stranninger, Straubinger Tagblatt vom 30.09.2023